Renaissancearchitektur: Baukunst und Bildung

Renaissancearchitektur: Baukunst und Bildung
Renaissancearchitektur: Baukunst und Bildung
 
Das Wort »Renaissance« bezeichnet zugleich ein beispielloses kulturelles Projekt und eine kunstgeschichtliche Epoche. Den Maßstab ihrer Ambitionen und das Vorbild ihrer Ausdrucksformen suchte die Renaissance in der Antike, womit bis ins 18. Jahrhundert vor allem das römische Altertum gemeint war, dessen Bau- und Kunstwerke auf der Apenninhalbinsel zugänglich waren. Die Ruinen hatte man immer gekannt, in der Renaissance gewannen sie aber Aktualität als Objekte einer kulturellen Fixierung: Man sah in ihnen anschauliche Zeugnisse einer bewunderten Vergangenheit und zugleich eine Herausforderung an die Aufgabenstellung der Gegenwart. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden in Italien die ersten Skulpturen, Bauten und Gemälde, die das neue Interesse an der Antike zum Ausdruck bringen, seit dem 16. Jahrhundert wirkte die italienische Entwicklung zunehmend auch auf das übrige Europa ein. Das Ende der Renaissance setzt die Kunstgeschichte mit dem Durchbruch des Barock um 1600 an, der sich wiederum zuerst in Italien vollzog. Die Wirkungsgeschichte der Renaissance reicht freilich weit über dieses Datum hinaus, sie lässt sich bis in die Kultur der Gegenwart verfolgen.
 
In ihren Ursprüngen ist die Architektur der Renaissance nicht zu trennen von der humanistischen Kultur, die Italien seit dem 14. Jahrhundert zunehmend prägte. War die Arbeit der Maler, Bildhauer und Baumeister in der mittelalterlichen Tradition zu den gering geschätzten handwerklichen Tätigkeiten gezählt worden, so zeigte die Lektüre der antiken Autoren, welch hohes Ansehen die Künste im Altertum genossen hatten. Vereinzelt wirkte sich diese Erkenntnis schon auf die Kunstpraxis des ausgehenden Mittelalters aus: In Florenz fanden bereits zur Zeit Giottos und Cimabues lebhafte Diskussionen zu Fragen der Malerei, Bildhauerkunst und Architektur statt; Fachkommissionen, denen auch Humanisten angehörten, erörterten zum Beispiel die verschiedenen Vorschläge, die zum Neubau des Florentiner Doms eingereicht wurden. Gleichzeitig verlor die mittelalterliche Tradition handwerklicher Spezialisierung, die im Zunftsystem ihre Organisationsform gefunden hatte, immer mehr an Bedeutung. Das Metier des Bauens war nun nicht mehr nur gelernten Maurern oder Zimmerleuten zugänglich; Entwurfsspezialisten wie Goldschmiede, Maler oder Bildhauer konnten den Erwartungen der Bauherren oft besser gerecht werden und betätigten sich immer häufiger auch als Architekten. Das intensive Kunst- und Architekturinteresse der Gebildeten führte somit einerseits zu einem neuen fachlichen Urteilsvermögen der Auftraggeber, das für die gesamte Renaissance kennzeichnend bleiben sollte und der Durchsetzung des Neuen immer wieder Vorschub leistete. Mit den steigenden Anforderungen, die an die Bildung des Künstlers gestellt wurden, wuchs andererseits auch dessen soziales Ansehen.
 
Bei allem Variantenreichtum, der die Renaissancearchitektur in ihrer geschichtlichen Entwicklung und geographischen Streuung auszeichnet, ist ihr verbindliches Merkmal die Berufung auf die Autorität der Antike. Im Unterschied zu den mittelalterlichen »Protorenaissancen«, die stets dem Verdikt gegen alles Heidnische unterlagen und sich schon deshalb innerhalb enger Grenzen bewegten, vollzog die Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts ihre Auseinandersetzung mit dem Altertum von Anfang an im Sinne eines ebenso unbefangenen wie leidenschaftlichen, umfassenden wie kritischen Studiums. Sowohl die Monumente als auch die schriftlichen Quellen zum antiken Bauwesen wurden unermüdlich erforscht, die Ergebnisse wirkten entscheidend auf die zeitgenössische Vorstellung von der Antike ein. Zu Recht betrachtet man daher heute die antiquarische Gelehrsamkeit des 15. und 16. Jahrhunderts als den eigentlichen Beginn der modernen Altertumswissenschaften.
 
1416 entdeckte der Humanist Poggio Bracciolini in der Klosterbibliothek von Sankt Gallen das erste vollständige Manuskript des Architekturtraktats, den der Römer Vitruv im 1. Jahrhundert v. Chr. verfasst hatte. Mit diesem bis dahin lediglich in Teilen bekannten Werk stand der Renaissance die einzige erhaltene Gesamtdarstellung der antiken Architektur zur Verfügung. Die rasch zunehmende Verbreitung des Textes, die sich in Abschriften, frühen Drucken und Übersetzungen dokumentiert, ging einher mit dem Ehrgeiz der Renaissance, erstmals seit der Antike eine eigenständige Architekturtheorie zu entwickeln. Den frühesten und für lange Zeit grundlegenden Architekturtraktat der Renaissance verfasste Leon Battista Alberti, auch er der Herkunft nach Florentiner, mit seinen zehn Büchern »Über die Baukunst« (»De re aedificatoria«, 1451).
 
Neue Ziele setzte die Architekturtheorie der Renaissance vor allem für die Ästhetik der Baukunst. Als Grundlage der Schönheitslehre galt generell die Forderung, dass - den bildenden Künsten entsprechend - auch die Architektur dem Vorbild der Natur folgen müsse. Seit Alberti wurde dieses Postulat genutzt, um die Vorliebe der Epoche für Zentralbauten, das heißt Bauwerke, deren Grundrisse kreisrund sind oder sich vom Kreis ableiten, zu rechtfertigen. Die gesamte Natur von den Planeten bis zu den Tieren und ihren Nestern, so Alberti, beweise die Liebe der Natur zum Kreis. Als geschichtliches Modell für Zentralbauten, die innerhalb der antiken Tempelarchitektur allerdings immer Ausnahmefälle geblieben waren, stand der Renaissance vor allem das Pantheon in Rom vor Augen.
 
Ein Hauptproblem der Architekturtheorie war die komplizierte Materie der Säulenarchitektur. Schon Vitruv hatte die Säule auf das Vorbild des menschlichen Körpers bezogen und damit eine Prämisse formuliert, die wiederum dem Gebot der Nachahmung der Natur Nachdruck verlieh und schon deshalb in der Renaissance große Bedeutung gewann. Andererseits waren die Formgesetze und Proportionen der Säulenarchitektur bei Vitruv in vielen Punkten unklar beschrieben und für die Renaissance angesichts der vielgestaltigen Befunde, die sich aus den erhaltenen Bauten ergaben, oft nicht nachzuvollziehen. Alberti führte erste Klärungen herbei, konnte aber nicht alle Zweifel über den korrekten Umgang mit dem Vokabular der Säulenarchitektur und deren Zusammenwirken mit den antiken Tempelstilen beseitigen. Zur Definition von Säulenordnungen, deren Maßverhältnisse und Formen einen festen, universell verwendbaren Kanon darstellen, sollte erst die Architekturtheorie des 16. Jahrhunderts mit den viel benutzten Publikationen von Sebastiano Serlio und Vignola gelangen.
 
Ein weiteres Hauptanliegen der Epoche war die Entwicklung einer rational begründeten architektonischen Proportionslehre, die ihre Grundlagen gleichfalls aus den Gesetzen der Natur beziehen sollte. Alberti forderte einfache, musikalischen Intervallen entsprechende und wegen ihrer Harmonie als schön empfundene Zahlenverhältnisse. In der Tradition Platons verstand er die Zahlenharmonie als Ordnungsprinzip der Natur, dem etwa auch die Planetenbewegungen gehorchten. Andrea Palladio nahm später die Idee der harmonischen Proportion in seinen Bauten und Entwürfen wieder auf. Noch größeren Einfluss auf die Architekturtheorie der Renaissance übten anthropomorphe Proportionslehren aus: Schon Vitruv hatte im Zusammenhang mit der Symmetrie der Tempelbauten den Körper eines ideal proportionierten Mannes beschrieben, dessen ausgestreckte Arme und Beine je nach Spreizwinkel die Begrenzungslinien eines Kreises beziehungsweise eines Quadrats berühren. Eine Reihe von Künstlern, unter ihnen Leonardo da Vinci, vollzog Vitruvs Beschreibung bildlich nach. Die Proportionsfigur galt ihnen als Inbegriff einer Entwurfslehre, die das Verhältnis der Bauglieder zueinander nach dem Vorbild des menschlichen Körpers bestimmt.
 
In den Architekturbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts fand nicht nur das Antikenverständnis der Renaissance und damit ihr Verhältnis zur Geschichte seinen Niederschlag, die Traktate dienten den Verfassern auch als Medium der Reflexion über Gegenwart und Zukunft. Schon Albertis »De re aedificatoria« zielte auf die eigene Zeit, deren Baupraxis der Autor nach Kriterien des klassischen Altertums reformieren und wissenschaftlich begründen wollte. Wenig später verfasste der Florentiner Filarete seine Beschreibung der fiktiven Stadt Sforzinda, um in utopischer Freiheit nicht nur die architektonische, sondern auch die soziale Ordnung eines idealen Fürstentums zu entwerfen. Sebastiano Serlio nahm in seinen Architekturtraktat neben antiken Bauten auch beispielhafte Werke der eigenen Epoche auf. Andrea Palladio schließlich nutzte das gedruckte und illustrierte Buch, um gleichberechtigt zu seinen Erkenntnissen über die antike Baukunst auch die eigenen Architekturentwürfe zu verbreiten. Von Alberti bis zu Palladio stellt sich die Architekturtheorie so als jene literarische Gattung dar, die der Synthese von Geschichtsbewusstsein, Gegenwartsstolz und Zukunftserwartung - und damit der kulturellen Grundverfassung der Epoche - den deutlichsten Ausdruck verliehen hat.
 
Prof. Dr. Andreas Tönnesmann

Universal-Lexikon. 2012.

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